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Beobachtungen Corona-Zeiten

Mitnahme-Effekte

Die dritte Corona-Welle ist fast verebbt und in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens wird erleichtert durchgeatmet und erwartungsvoll nach Vorne geschaut. In Richtung einer Normalität, oder besser: einer Wiederherstellung des bis März 2020 gewohnten Lebens.

Aber es ist auch die Zeit der Rückschau, der Einschätzung und Bewertung von Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie und zum Gesundheitsschutz getroffen wurden. Dabei hat kurzem der Bundesrechnungshof „unerwünschte Mitnahme-Effekte“ kritisiert. Es geht unter anderem um die Kompensation von Apotheken und Krankenhäusern für deren Einsatz zum Beispiel bei der Verteilung der Masken oder Bereitstellung von Intensiv-Betten. Beides wurde ordnungsgemäß erledigt, und – weil die Vergütung mehr als großzügig war – konnte eben auch ordentlich Geld „mitgenommen“ werden.

Nun mag man fragen, warum von Seiten der Mitnehmenden keine Hinweise gekommen sind, dass der Vergütungsbetrag unnötig hoch sei und man an dieser Stelle doch Steuergelder sparen könne. Aber die Antwort liegt auf der Hand und jene auf dem Herzen: So funktioniert unser Gemeinwesen und unser Gewissen nicht! Wenn mir etwas – dazu von offizieller Seite – angeboten wird, dann darf ich zugreifen. Machen wir alle so – nur haben die Beträge halt unterschiedlich viele Stellen vor dem Komma.

Beim Griff zum Schnäppchen nehmen wir Prozente mit (die der Hersteller oder Produzent dann nicht bekommt); der Produzent nimmt die niedrigeren Herstellungskosten mit (die durch sinkende Löhne im Produktionsland kompensiert werden). Bei der Einkommen-steuererklärung nutzen wir die zahlreich vorhandenen – ganz legalen – Spartipps, um möglichst viel „rauszukriegen“; und mit entsprechender Findigkeit konnten auch Corona-Hilfen umfassend abgegriffen werden.

Mitnahme-Effekte – da geht es nicht um Betrug oder Erschleichung von Leistungen. Nein, man nimmt einfach mit, was angeboten wird. Vor sich selbst rechtfertigen lässt sich das allemal: „Das steht uns zu; wir sind auch mal dran; die anderen machen es genauso; selber doof, wer nicht kontrolliert, was damit passiert; wir werden ja sonst immer ausgenommen…“

Das ist nicht strafbar; und ob es verwerflich ist, darüber lässt sich streiten – zutiefst menschlich scheint es jedenfalls zu sein, das Mitnehmen.

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Beobachtungen Corona-Zeiten Von Gestern

Solidarität

Mein Vorschlag für das pandemische Unwort lautet: Solidarität.

Vor zehn Monaten hab ich einen ersten Entwurf dazu verfasst, der es aber nie bis zur Veröffentlichung geschafft hat, da die Realität diesen und alle weiteren Schreibversuche immer wieder überholt hat. Aber nun ist das S-Wort wieder gefallen – diesmal im Zusammenhang mit den Impfungen – und hat bei mir einen heftigen Würgereiz ausgelöst. Deshalb muss das jetzt raus:

‚Solidarität‘, das ist lt. Duden ein unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele. Solche gemeinsamen Ziele gab es vor einem Jahr wirklich für einen ganz kurzen Moment und für weite Teile der Gesellschaft. Ja, man konnte tatsächlich sogar eine Art Zusammenhalt spüren.

Die Solidarität vom März 2020 war relativ klar umrissen. ‚Damals‘ blieben wir zuhause in Solidarität mit dem Klinikpersonal, wir kauften Gutschein in Solidarität mit Kulturbetrieben, wir unterstützen solidarisch alle kulinarischen Take-Away-Angebote, um die Gastronomie zu stärken. Das Ziel war „gemeinsam durch diese Krise kommen“.

Im Laufe der Zeit wurde es dann immer diffuser, wer mit wem solidarisch zu sein hat, die Ziele und Anschauungen wurde zunehmend vielfältiger, aber die Solidarität blieb in aller Munde – auch da, wo man sie nicht vermutet hätte(*) – und die Forderungen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aneinander wurden lauter.

Junge Menschen sollen sich entsprechend solidarisch zeigen, indem sie auf alles verzichten, was sich im Alter zwischen 14 und 24 an spannenden Begegnungen so ereignet; wie wär’s, wenn im Gegenzug die geimpften rüstigen Senioren auf den Biergarten und die Tirol-Reise verzichten würden? Zumindest würde das dem Wortsinn entsprechen, denn laut Duden bedeutet ’solidarisch‘ füreinander einstehend, sich gegenseitig verpflichtet. Aber so einfach ist es eben doch nicht, denn sie könnten sich ja auch den Hotel- und Gaststättenbetrieben und der Tourismus-Industrie verpflichtet fühlen und hier solidarisch sein🤔

Ich fürchte, wir sind in einer Solidaritätssackgasse gelandet. Und was liegt angesichts dieser Komplexität näher, als sich dem einen Ziel zu verschreiben, das meistens gut sichtbar ist – dem eigenen Interesse!

Nach einem Jahr Pandemie sind wir zumindest in diesem Bereich wieder in der Normalität gelandet. Die Debatten um die Impf-Reihenfolge machen es deutlich: Jede/r ist sich selbst der/die Nächste – und wer halt geimpft in Urlaub fahren will, findet schon Mittel und Wege, sich in der Impfschlange weiter vorne als vorgesehen einzureihen. Wobei es natürlich auch ein Grund zum freudigen Staunen ist, dass so viele junge Erwachsene sich pflegend um Angehörige kümmern. Wer hätte das gedacht!

Meine Bitte: Streichen wir das abgenutzte Wort und das ganze überhöhte Konzept einer gesellschaftlichen „Solidarität“ aus unseren Appellen, Diskussionen und Kommentaren.

Versuchen wir es statt dessen mit „Anstand“ – das wäre schon was.

(*) So riefen die Ersteller einer Petition im April 2020 gegen die sog. „Führerschein-Falle“, zur Solidarität mit Autofahrern auf, die mit mehr als 50km/h durch 30er-Zonen fahren.

Zitat: Innerorts können ab jetzt Fahrverbote schon ab einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 21 km/h und außerorts bzw. auf der Autobahn ab einer Überschreitung von 26 km/h verhängt werden.[...] Ausgerechnet in den aktuellen Krisenzeiten, die für Solidarität und Gemeinschaft stehen sollen, werden Autofahrer mit den neuen StVO-Regelungen regelrecht drangsaliert.Die Erhöhung aller Bußgelder, insbesondere derer bei bereits kleinsten Geschwindigkeitsüberschreitungen, ist nicht nur übertrieben, sondern sendet auch absolut falsche Signale.  Gerade in Zeiten wie diesen sind SOLIDARITÄT und Zusammenhalt in der Gesellschaft gefragt.
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Beobachtungen Corona-Zeiten Tage wie dieser

Schluss mit Lustig

Es gibt Tage, da reicht eine einzelne Nachricht, um meine heitere Gelassenheit in kalte Wut zu verwandeln. Heute ist so ein Tag. Es war nur die Bemerkung im Radio – bestätigt und untermauert durch meinen wohlinformierten Sohn – dass die Impfkampagne auf globaler Ebene mit dem Ziel, die Impfstoffe (halbwegs) gerecht zu verteilen, gnadenlos gescheitert ist, bzw. noch am Scheitern ist.

Nicht, dass mich das überrascht. Seit Monaten kann man die Bemühungen der reichen Staaten verfolgen, möglichst schnell möglichst viele Impfstoffe für die eigene Bevölkerung zu sichern. Ein kleines Wunder dabei, dass die EU zumindest versucht hat, für alle ihre Mitglieder zu sorgen. Dem ein oder anderen Staat ging das zwar zu langsam und es wurde doch selbst eingekauft – aber immerhin. Auf weltweiter Ebene kriegen wir es nicht hin.

Was mich so wütend macht? Dass es die gleichen Mechanismen sind, die dafür sorgen, dass die Erde mit ihren Ressourcen ausgebeutet wird. Aber das muss ich ja nicht mitansehen. Das machen andere für uns, oft genug für einen Hungerlohn.

Und wir gönnen uns: Den Kaffee, die modischen Klamotten, die trendigen Möbel, die Schokolade, das aktuelle Smartphone… Eine weitere Aufzählung erspare ich mir; die Liste wäre zu lang für diesen Blog.

Und nun gönnen wir uns als Allererste die Impfungen, den „Komplett- Schutz“, und damit die Möglichkeit, das öffentliche Leben „wieder hochzufahren“, weil wir finden, dass uns das zusteht, dass wir ein Recht darauf haben. Aber vor allem, weil wir es uns leisten können.

Experten weisen unermüdlich darauf hin, dass eine ungleiche Verteilung und verzögerte Impfung von weiten Teilen der Weltbevölkerung die Pandemie nur verlängern wird, weil das Virus Mutanten bilden wird… (wie wir es ja schon erlebt haben mit den Britischen, Indischen, Südafrikanischen COVID-Mutanten).

Aber offensichtlich ist der Mensch einmal mehr nicht in der Lage, drei Schritte weiter zu denken, Folgen abzuschätzen, abzuwägen und dann entsprechend zu handeln oder es sein zu lassen. Das sprichwörtliche Hemd ist immer noch näher als der Mantel, und die Fähigkeit zu verdrängen riesig groß. Die funktioniert auch bei mir meistens richtig gut.

Nur an Tagen wie diesem, da kickt die Wut rein, klar und unerbittlich.

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Beobachtungen

L O L

Nur noch drei Buchstaben sind nötig, um eine griffige dreiteilige Redewendung noch knackiger auszudrücken. Die dazugehörigen drei Wörter wurden quasi „gekürzt“, so dass nur noch die jeweiligen Anfangsbuchstaben übrig bleiben. Auf solche Weise entstandene Buchstabenfolgen nennt man „Akronyme“. Sie werden gerne genutzt, um das Tippen auf dem Smartphone zu beschleunigen, oder um dem aktuellen Befinden (meist am Headset) kurz aber kraftvoll Ausdruck zu verleihen.

Die Entstehung solcher Akronyme liegt oft im Dunkeln, oft werden sie nur von Screen to Screen oder von Mikro zu Mikro weitergegeben. Folglich lassen sich am korrekten Umgang mit Akronymen die Eingeweihten von peinlichen Möchtegern-Usern unterscheiden.

Da ich an der Seite von zwei Jungs als Mutter herangewachsen bin, hatte ich die Chance, ganz nahe am Puls der Akronyme zu sein und durch unauffälliges Mithören und geschicktes Nachfragen zumindest eine Teilkompetenz in deren Gebrauch zu erreichen.

So gelang es mir relativ zeitnah, das Akronym LOL zu entschlüsseln. Englischkenntnisse sind dabei durchaus hilfreich, denn LOL bedeutet ungekürzt „Laughing out Loud“ (geht also in Richtung „selten so gelacht“). Diese Erkenntnis habe ich eine zeitlang sogar ein bisschen stolz vor mir hergetragen, bis ich das Akronym LOL in einem ganz anderen Zusammenhang wieder angetroffen habe. Wiederum dank meines in PC-Spielen versierten Sohnes bekam es eine neue Bedeutung: LOL, das steht auch für „League of Legends“ – ein legendäres Free-to-play MOBA* Game. (Auflösung dieses Akronyms s. unten – oder mutig selbst herausfinden)

Als ob zwei Varianten nicht genug wären, bietet mir nun Amazon mit allabendlicher Penetranz ein neues Serienformat an, das den klangvollen Titel trägt „Last one Laughing“ – in anderen Worten: „Wer zuletzt lacht…“ oder gekürzt auf drei Buchstaben: L O L …

Und weil wir gerade in einer Serienflaute waren und ich von der jungen Generation im Hause schon davon gehört hatte, haben wir uns mal reingeschaltet. Die Idee ist einfach: Zehn Berufskomiker und Berufskomikerinnen befinden sich sechs Stunden lang im gleichen Raum, oder zumindest so lange, wie sie es schaffen, nicht zu lachen. Wer zweimal gelacht hat (oder auch nur gegrinst – die Regeln sind streng), scheidet aus. Die Anwesenden versuchen also gleichzeitig, sehr komisch zu sein, damit die anderen lachen, aber auf keinen Fall zu lachen, wenn die anderen sehr komisch sind.

Diese Spielidee kommt mir bekannt vor! Ich sehe Kinder vor mir, die im Stuhlkreis sitzen. In der Mitte auf allen Vieren der sogenannte schwarze Kater, der auch auf einen Stuhl sitzen will. Das erreicht er, wenn er ein Kind aus der Runde zum Lachen bringt. Dafür nutzt er alle Tricks, die ein Kater eben so drauf hat. Das so angemachte Kind darf nicht lachen und muss – ohne mit der Wimper zu zucken – folgende Worte sagen: „Armer schwarzer Kater!“ Was dem Spiel gleichzeitig den Namen gibt.

Schon damals hab ich mich gefragt, warum man sich an einem fröhlichen Jungscharabend krampfhaft das Lachen verbeißen muss, bzw. eine/r sich vor eingefrorenen Gesichtern zum Affen/Kater machen soll. Und so sitze ich auch heute mit einer Mischung aus Unverständnis und tiefem Mitleid mit den Akteuren vor dem Bildschirm (das allerdings dadurch gemildert wird, dass alle freiwillig dabei sind und ein hoher Geldbetrag ausgelobt ist). Aber vielleicht verstehen die Beteiligten das Ganze ja als Training für eine bessere Frustrationstoleranz auf der Bühne? Oder sie wollen die Qualität ihrer Gags unter extremen Umständen testen? Wir haben abgeschaltet.

Nein, es ist so gar nicht mein Format, dieses LOL der dritten Art. Denn ich stelle immer wieder fest, dass überhaupt viel zu wenig gelacht wird im richtigen Leben, und vor allem das Lachen über einen selbst viel zu kurz kommt. Dabei hätten wir doch so viele Gelegenheiten dazu!

Schauen wir uns doch einfach mal zu beim Versuch, halbwegs würdevoll durch einen ganz normalen Tag zu kommen: wie wir morgens noch recht zerknautscht vor dem Spiegel stehen; wie wir ulkige Gewohnheiten pflegen; wie wir wunderliche Begegnungen haben und sonderbare Gespräche führen; wie wir versuchen, souverän und kompetent zu wirken; wie wir uns selbst so wichtig nehmen… Einfach frohgemut betrachten, was wir so treiben den lieben langen Tag. Wer braucht da noch Comedians?😉

Und deshalb will ich zurück zum Original- Akronym: LAUGHING OUT LOUD! Grinsen, lächeln und mir heimlich zuzwinkern zählt auch. Anlässe dafür liefere ich mir gewiss auch heute😃

*Multiplayer-Online-Battle-Arena

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Beobachtungen

Ich sehe was …

… was du nicht siehst

Neulich in der S4 Richtung Jöhlingen: Zwei Mädchen auf dem Heimweg von der Schule spielen dieses uralte Spiel, für das man nichts braucht außer eine/n Mitspieler/in, eine Umgebung und ein wenig Enthusiasmus. Davon bringen Kinder eindeutig mehr mit als Erwachsene. Ich erinnere mich an S-Bahn-Fahrten mit unseren kleinen Kindern: Nach fünf Runden „Ich sehe was…“ war mir schon langweilig.

Ganz anders meine Mitreisenden in der S-Bahn. Die beiden Mädchen waren eifrig bei der Sache, so dass ich immer wieder zu ihnen rüber hörte (trotz Musik im Ohr). Die Intitiatorin des Spiels begann. Sie ließ kurz den Blick schweifen und verkündete fröhlich: „Ich sehe was, was du nicht siehst und es ist grün.“ Ein leichte Aufgabe für die Mitspielerin: „Die Wiese draußen!“ Volltreffer, dachte ich lächelnd und wandte mich wieder meiner Musik zu. Nach wenigen Minuten jedoch wurde ich wieder auf die beiden aufmerksam. Es gab anscheinend eine Auseinandersetzung, denn die Stimmen waren lauter und die Gesichter richtig ernst geworden.

Schnell wurde der Grund des Konflikts deutlich: Die Raterin hatte trotz vieler Versuche das Gesuchte nicht finden können, und so musste das Rätsel durch die ‚Behaupterin‘ aufgelöst werden. Es war der Kunststoffkleiderhaken an der Wand neben dem Fenster, den sie so beschrieben hatte: „Ich sehe was, was du nicht siehst … und es ist weiß“. Die erfolglose Raterin war entsetzt: „Der ist nie im Leben weiß! Der ist grau!“ Die andere schaute verdutzt. Für sie hing dort ein eindeutig weißer Haken. Eine Weile ging es so hin und her und jede versuchte, die andere von der richtigen Farbe zu überzeugen. Schließlich gab die Behaupterin nach, aber überzeugt schien sie mir nicht. Sie hatte nur keine Lust auf weiteren Streit.

In Jöhlingen angekommen führte mein Weg mich über den Kirchplatz, auf dem ich schon von weitem den bunt geschmückten Osterbrunnen erblickte. Als ich direkt an ihm vorbeiging stellte ich fest, dass das grüne Laub und die Eier aus Plastik waren. Ich dachte an die beiden Mädels und spielte das Spiel mit mir selbst durch: Eine sieht einen schön geschmückten Osterbrunnen, die andere einen Haufen Plastikmüll.

Kurz darauf beim Spaziergang mit meinem Mann: Ein gefiedertes Tier war in der Ferne zu beobachten. Nur sah er einen Storch und ich einen Reiher auf der Wiese. Wir sind tatsächlich in ein mittleres Gezanke geraten, weil jeder auf seiner Sicht bestanden hat.

Da war es wieder: Ich sehe was, was du nicht siehst. Was so bescheiden als Name eines harmlosen Kinderspiels daherkommt, entpuppt sich plötzlich als zeitlose Wahrheit: Ich sehe was, was du nicht siehst, weil ich einen anderen Standpunkt habe, eine andere Perspektive, die Dinge anders einordne, andere Erfahrungen im Leben gemacht habe, anderen Influencer:innen folge!

Der eine sieht ein Meisterwerk der Automobilindustrie, der andere eine überdimensionierte rollende Blechkiste. Die eine sieht dick gepolsterte Hüften und fette Oberschenkel, die andere einen wohlgeformten prallen Körper. Der eine sieht den duftenden Kaffee, die andere die Unmengen an Wasser, die für seine Herstellung notwendig war. Die eine sieht in der Impfung eine Gefahr, der andere die Rettung.

Ich sehe was, was du nicht siehst!!! Genau so ist es. Und deshalb musst du mir erklären, was du siehst und musst dir anhören, was ich dir über meine Sicht zu sagen habe. Zumindest versuchen sollten wir das. Das ein oder andere Missverständnis ließe sich möglicherweise vermeiden und der Hang zur Rechthaberei könnte nachlassen.

Ich sehe was, was du nicht siehst – bisher sah ich einen ziemlich langweiligen kindlichen Zeitvertreib. Heute sehe ich eine überragende Übung, sich der eigenen Wahrnehmung bewusst zu werden und sie zumindest kurz in Frage zu stellen.

Warum haben wir je aufgehört, dieses Spiel zu spielen?


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Tage wie dieser

Ostern 2021

Alle Jahre wieder feiern wir Ostern.

An der Seite Jesu und seiner Jünger gehen wir durch die spannungsvollen Tage der Passionswoche. Die beginnt mit einem bejubelten Einzug in Jerusalem, nimmt uns dann mit zum letzten Abendessen und Krisengesprächen unter Freunden, führt uns Jesu‘ Zweifel und Anfechtungen am Ölberg vor Augen und mündet im Verrat durch Judas. Wir erleben die zähen Verhandlungen vor den zuständigen Behörden, die in einem Todesurteil enden. Am Karfreitag schließlich gedenken wir Folter, Leid und Tod. Dann steht die Zeit still. Kaum auszuhalten.

Müssen wir aber auch nicht lange, denn schon nach 36 Stunden (gerechnet von der Sterbestunde um 15.00 Uhr am Freitag bis zur nächtlichen Auferstehung um 3.00 Uhr am frühen Sonntag) beginnt mit Ostern etwas ganz Neues und wir sind eingeladen zur österlichen Freude, es darf gejubelt und gelacht werden. Alle Jahre wieder.

Beim Abendessen am Karfreitag am Familientisch kam eine interessante Frage auf: Wozu diese alljährliche emotionale Achterbahnfahrt, wo wir doch wissen, worauf es hinausläuft? Wenn mir Ostern etwas bedeutet, dann tut es das doch ein für alle Mal? Dann kann ich doch nicht so tun, als ob ich jedes Jahr auf’s Neue überrascht und auf’s Neue begeistert bin, oder?

Diese Fragen und Gedanken sind mir gut vertraut und begleiten mich mehr oder weniger drängend schon einige Jahrzehnte. Allerdings hatte ich – anders als unsere Söhne – es nie gewagt, sie an geeigneter Stelle auch auszusprechen. Nun sind sie „auf dem Tisch“ und ich versuche mich an einer Antwort. Immerhin habe ich Ostern nie „ausfallen“ lasssen (was an der Seite eines Gemeindepfarrers natürlich auch recht schwierig geworden wäre).

Warum also alle Jahre wieder die genau gleichen Ereignisse bedenken und feiern? Und da kann man über die religiösen Feste hinaus ja auch fragen, wozu wir alljährlich unsere Geburtstage feiern. Unser Am-Leben-Sein an sich beweist, dass es diesen einen entscheidenden Tag der Geburt gegeben hat. Trotzdem tut es anscheinend gut, sich regelmäßig daran zu erinnern. Wenigstens an einem Tag im Jahr sich dieser erstaunlichen Tatsache gewahr werden, dass ich schon so und so viele Jahre als lebendiges Wesen auf dieser Welt bin.

Erinnern – vielleicht geht es auch an Ostern einfach nur darum: sich erinnern!

Daran, dass menschliches Leben seit jeher aus Höhen und Tiefen besteht, aus Gemeinschaft und Einsamkeit, aus Verzweiflung und Hoffnung, aus Trauer und Freude, aus Leben und Tod.

Daran, dass wir in dieser Spannung leben und es mitunter ziemlich schwer ist, sie auszuhalten.

Beim nächsten familiären Treffen am Tisch kann ich zumindest diese Antwort beisteuern: durch das Osterfest 2021 wurde ich daran erinnert, dass das Leben weitergeht – allem Widrigen zum Trotz.

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Tage wie dieser

Zum Heulen

„Jetzt heult sie schon wieder…“ stöhnte mein älterer Bruder regelmäßig entnervt, wenn ich unsere wilden Spiele nicht anders beenden konnte als mit einem Heulanfall, der zum Eingreifen unserer Mutter sorgte.

Ich wollte keine Heulsuse sein, aber die Tränen kamen schnell, wenn ich wütend, hilflos, verzweifelt war. Und als kleine Schwester war ich das wohl oft, denn ganz lange war der Bruder einfach größer, schneller, stärker, klüger. Auch das aufgeschlagene Knie oder der Spreißel im Daumen waren Anlass für viele Tränen.

Irgendwann waren wir Geschwister ebenbürtig und die Kontrolle über unangenehme Emotionen war gewachsen. Je älter ich werde, umso souveräner kann ich scheinbar mit Gefühlen von Angst, Wut, Schmerz und Verzweiflung umgehen. So jedenfalls mein Anspruch.

Ich heule kaum noch, aber wenn doch, dann passiert etwas ganz Erstaunliches: die Tränen lösen etwas in mir und zeigen mir, wie tief der Schmerz sitzt und wie klein und hilflos ich mich fühle. Dann bin ich „wie aufgelöst“, etwas ist klarer und ehrlicher geworden.

Heute ist Karfreitag, der Feiertag, der seinen Namen hat vom althochdeutschen Wort ‚kara‘, das heißt ‚Kummer‘, ‚Sorge‘. ‚Kara‘ wiederum lässt sich auf das indogermanische Verb ‚gar‘ zurückführen. Und das bedeutet ’schreien, jammern, wehklagen‘ .

Es ist der Tag ‚zum Heulen‘ über all das, was uns erfüllt mit Angst und Schmerz und Wut, mit Trauer und Hoffnungslosigkeit. An diesem Tag brauchen wir keine Antworten suchen, Strategien entwickeln oder Trostversuche anstellen. Heute können wir der Klage, dem Jammer, den Tränen Raum geben bis wir wie aufgelöst sind.

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Corona-Zeiten system(ir)relevant Von Gestern

Das große Testen

„Also, ich bin übrigens getestet – alles gut“ Ein Satz, den ich in den letzten Tagen öfter gehört habe und der zur angesagten Begrüßungsformel in der nächsten Pandemie-Phase werden könnte. Ich konnte das von mir noch nicht sagen und schon stellt sich die Frage: Bin ich etwa unverantwortlich, wenn ich mich nicht regelmäßig testen lasse?

Dieses damit einhergehende irritierende Gefühl kommt mir bekannt vor; vor ziemlich genau einem Jahr habe ich mehrfach darüber geschrieben. Die Schutzmaßnahmen, die ergriffen werden, gehen jetzt in eine nächste Phase, oder halt: „Lethal Weapon 3-5“.

Wie schon im letzten Jahr sträubt sich etwas in mir, dem Testen mein absolutes Vertrauen zu schenken. Nach dem Abstand-Halten, den Alltagsmasken, den medizinischen Masken, den FFP2-Masken und den immer stärkeren Kontaktbeschränkungen soll der maximale Schutz nun mit dem Testen und Getestet-Werden erreicht werden.

Daran wird meine Störrigkeit natürlich rein gar nichts ändern, und ich sehe mich schon in der Warteschlange des hiesigen Test-Zentrums stehen, um zum Friseur zu dürfen. Also, diesmal kein Protest von mir an dieser Stelle.

Ganz im Gegenteil: Ich fordere, dass wir noch deutlich umfassender testen, wie gefährlich wir für einander wirklich gerade sind!

Für die Pilotphase habe ich mir Folgendes ausgedacht: Um Begegnungen mit einem oder mehreren Mitmenschen* möglichst gefährdungsarm gestalten zu können, testen wir uns regelmäßig selbst!

Die fünf Leitfragen für diesen Selbst-Test lauten:

  • Ist meine Genervtheits-Kurve über dem Durchschnitt?
  • Steigt mein Neid-Faktor exponentiell an?
  • Brauche ich schon morgens die Extra-Portion Bestätigung?
  • Sind meine Gedanken zu 60% mit Zynismus gesättigt?
  • Liegt meine Ärger-Inzidenz bei fünf Wutausbrüchen in den letzten sieben Tagen?

Die Auswertung ist unkompliziert und kann direkt vorgenommen werden: Fünfmal NEIN = negatives Testergebnis. Ein JA bei einer der Fragen = positives Testergebnis. Wenn wir damit ähnlich transparent umgehen wie mit den Ergebnissen der Covid-Tests, zum Beispiel mit einem roten und grünen Button, dann wäre für das jeweilige Gegenüber unschwer zu erkennen, welches Beziehungsgefährdungspotential wir jeweils mitbringen.

Sehen wir Rot, empfiehlt sich die Anwendung der mittlerweile gut eingeübten Abstands- und Hygieneregeln, um den Beteiligten einen ersten Schutz zu bieten.

Ich bin überzeugt, dass mit diesem Test ein vielversprechendes Tool für künftiges sicheres Zusammenleben zur Verfügung steht und warte nur noch auf den Bescheid der zuständigen Zulassungsstelle. Dann kann das Große Testen beginnen!

*(Familienmitglieder über und unter 14 Jahren gehören ausdrücklich dazu!)


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Corona-Zeiten Veränderung

Höchste Zeit

Wenn Professor Marx (Intensivmediziner am Klinikum in Aachen und noch vieles mehr) recht hat, dann haben wir im Spätsommer/September „genug verimpft“, „die Herdenimmunität erreicht“ und damit „die Pandemie bewältigt“. (1)

Gehen wir einfach mal davon aus (mit einem Augenzwinkern vielleicht), dass es tatsächlich so weit kommt. Und nehmen wir auch noch an – oder erinnern uns – dass „durch Corona“ einiges in Frage gestellt wurde in unserem persönlichen, gesellschaftlichen und globalen Leben. Viele sind ins Nachdenken gekommen: Was ist wirklich wichtig für mich, für uns, für ein gutes Zusammenleben?

Sollte also wirklich das vorläufige Ende der Pandemie mit ihren Einschränkungen in Sicht sein, und wollten wir ernsthaft Antworten auf diese Lebensfragen finden, dann wäre jetzt höchste Zeit dafür.

Die Antwort „Das Ganze endlich hinter uns zu lassen!“ wäre mir zu wenig…

(1) So gehört am 23. März – Interview im Deutschlandfunk; Informationen am Morgen

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Corona-Zeiten Veränderung

Murmeltier-Jahr

Es ist der 23. März, der Wecker klingelt, ich stehe (nach zweimal snoozen) auf, koche den Ingwer-Tee und schalte die Nachrichten an: Das Virus beherrscht die Schlagzeilen, der Lockdown wird verlängert, Ostern wird ohne großfamiliäre Eiersuche stattfinden und einkaufen geht am besten im örtlichen Supermarkt.

Ich blinzle kurz, schaue nochmal auf die Jahreszahl am Kalender: Wir schreiben das Jahr 2021, aber mich beschleicht das untrügliche Gefühl, als hätte ich alles schonmal erlebt. Vor circa einem Jahr und dann immer wieder.

Mir kommt das täglich grüßende Murmeltier aus Punxsutawney in den Sinn und die Zeitschleife, in der Phil Connors, ein übellauniger Wetter-Berichterstatter dort gefangen war.

Nach dem ersten Schock über den sich wiederholenden 2. Februar, verfolgt Phil unterschiedliche Strategien im Umgang mit diesem Tag, den er bald in- und auswendig kennt. Schließlich überwiegt aber die Verzweiflung und er versucht seinem Leben ein Ende zu setzen. Es gelingt ihm nicht: An jedem vermeintlich neuen Morgen erklingt zuverlässig und unbarmherzig der Song „I got you, Babe“ aus dem Radiowecker und er muss sich der immergleichen Realität erneut stellen.

Irgendwann stellt Phil fest, dass er zwar die äußeren Umstände nicht ändern kann: Er sitzt fest in einem Nest in der amerikanischen Provinz und hat über den Murmeltiertag zu berichten. Seine Haltung dazu kann er jedoch sehr wohl verändern. Wie er diesen einen Tag verbringt – darauf hat er Einfluss. Unter stark eingeschränkten Möglichkeiten beginnt er also zu lernen: Klavierspielen, Zuhören, Eis-Skulpturen-Schnitzen, Freundlich sein und nicht zuletzt Lieben. Allmählich geschieht eine erstaunliche Wandlung.

Am Schluss ist es die erwiderte Liebe, die die Zeitschleife löst. Phil geht als geläuterter Mann aus diesem scheinbar endlosen 2. Februar hervor und beschließt, mit seiner Rita in Punxsutawney zu bleiben.

Im Grunde eine echte Mutmach-Geschichte für das Leben in Lockdown-Endlos-Schleifen. Es gibt sie auch jetzt, die Gestaltungsspielräume und Gelegenheiten zur Wandlung – es muss ja nicht unbedingt Klavierspielen sein.