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Beobachtungen Corona-Zeiten

Mitnahme-Effekte

Die dritte Corona-Welle ist fast verebbt und in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens wird erleichtert durchgeatmet und erwartungsvoll nach Vorne geschaut. In Richtung einer Normalität, oder besser: einer Wiederherstellung des bis März 2020 gewohnten Lebens.

Aber es ist auch die Zeit der Rückschau, der Einschätzung und Bewertung von Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie und zum Gesundheitsschutz getroffen wurden. Dabei hat kurzem der Bundesrechnungshof „unerwünschte Mitnahme-Effekte“ kritisiert. Es geht unter anderem um die Kompensation von Apotheken und Krankenhäusern für deren Einsatz zum Beispiel bei der Verteilung der Masken oder Bereitstellung von Intensiv-Betten. Beides wurde ordnungsgemäß erledigt, und – weil die Vergütung mehr als großzügig war – konnte eben auch ordentlich Geld „mitgenommen“ werden.

Nun mag man fragen, warum von Seiten der Mitnehmenden keine Hinweise gekommen sind, dass der Vergütungsbetrag unnötig hoch sei und man an dieser Stelle doch Steuergelder sparen könne. Aber die Antwort liegt auf der Hand und jene auf dem Herzen: So funktioniert unser Gemeinwesen und unser Gewissen nicht! Wenn mir etwas – dazu von offizieller Seite – angeboten wird, dann darf ich zugreifen. Machen wir alle so – nur haben die Beträge halt unterschiedlich viele Stellen vor dem Komma.

Beim Griff zum Schnäppchen nehmen wir Prozente mit (die der Hersteller oder Produzent dann nicht bekommt); der Produzent nimmt die niedrigeren Herstellungskosten mit (die durch sinkende Löhne im Produktionsland kompensiert werden). Bei der Einkommen-steuererklärung nutzen wir die zahlreich vorhandenen – ganz legalen – Spartipps, um möglichst viel „rauszukriegen“; und mit entsprechender Findigkeit konnten auch Corona-Hilfen umfassend abgegriffen werden.

Mitnahme-Effekte – da geht es nicht um Betrug oder Erschleichung von Leistungen. Nein, man nimmt einfach mit, was angeboten wird. Vor sich selbst rechtfertigen lässt sich das allemal: „Das steht uns zu; wir sind auch mal dran; die anderen machen es genauso; selber doof, wer nicht kontrolliert, was damit passiert; wir werden ja sonst immer ausgenommen…“

Das ist nicht strafbar; und ob es verwerflich ist, darüber lässt sich streiten – zutiefst menschlich scheint es jedenfalls zu sein, das Mitnehmen.

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Beobachtungen Corona-Zeiten Von Gestern

Solidarität

Mein Vorschlag für das pandemische Unwort lautet: Solidarität.

Vor zehn Monaten hab ich einen ersten Entwurf dazu verfasst, der es aber nie bis zur Veröffentlichung geschafft hat, da die Realität diesen und alle weiteren Schreibversuche immer wieder überholt hat. Aber nun ist das S-Wort wieder gefallen – diesmal im Zusammenhang mit den Impfungen – und hat bei mir einen heftigen Würgereiz ausgelöst. Deshalb muss das jetzt raus:

‚Solidarität‘, das ist lt. Duden ein unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele. Solche gemeinsamen Ziele gab es vor einem Jahr wirklich für einen ganz kurzen Moment und für weite Teile der Gesellschaft. Ja, man konnte tatsächlich sogar eine Art Zusammenhalt spüren.

Die Solidarität vom März 2020 war relativ klar umrissen. ‚Damals‘ blieben wir zuhause in Solidarität mit dem Klinikpersonal, wir kauften Gutschein in Solidarität mit Kulturbetrieben, wir unterstützen solidarisch alle kulinarischen Take-Away-Angebote, um die Gastronomie zu stärken. Das Ziel war „gemeinsam durch diese Krise kommen“.

Im Laufe der Zeit wurde es dann immer diffuser, wer mit wem solidarisch zu sein hat, die Ziele und Anschauungen wurde zunehmend vielfältiger, aber die Solidarität blieb in aller Munde – auch da, wo man sie nicht vermutet hätte(*) – und die Forderungen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aneinander wurden lauter.

Junge Menschen sollen sich entsprechend solidarisch zeigen, indem sie auf alles verzichten, was sich im Alter zwischen 14 und 24 an spannenden Begegnungen so ereignet; wie wär’s, wenn im Gegenzug die geimpften rüstigen Senioren auf den Biergarten und die Tirol-Reise verzichten würden? Zumindest würde das dem Wortsinn entsprechen, denn laut Duden bedeutet ’solidarisch‘ füreinander einstehend, sich gegenseitig verpflichtet. Aber so einfach ist es eben doch nicht, denn sie könnten sich ja auch den Hotel- und Gaststättenbetrieben und der Tourismus-Industrie verpflichtet fühlen und hier solidarisch sein🤔

Ich fürchte, wir sind in einer Solidaritätssackgasse gelandet. Und was liegt angesichts dieser Komplexität näher, als sich dem einen Ziel zu verschreiben, das meistens gut sichtbar ist – dem eigenen Interesse!

Nach einem Jahr Pandemie sind wir zumindest in diesem Bereich wieder in der Normalität gelandet. Die Debatten um die Impf-Reihenfolge machen es deutlich: Jede/r ist sich selbst der/die Nächste – und wer halt geimpft in Urlaub fahren will, findet schon Mittel und Wege, sich in der Impfschlange weiter vorne als vorgesehen einzureihen. Wobei es natürlich auch ein Grund zum freudigen Staunen ist, dass so viele junge Erwachsene sich pflegend um Angehörige kümmern. Wer hätte das gedacht!

Meine Bitte: Streichen wir das abgenutzte Wort und das ganze überhöhte Konzept einer gesellschaftlichen „Solidarität“ aus unseren Appellen, Diskussionen und Kommentaren.

Versuchen wir es statt dessen mit „Anstand“ – das wäre schon was.

(*) So riefen die Ersteller einer Petition im April 2020 gegen die sog. „Führerschein-Falle“, zur Solidarität mit Autofahrern auf, die mit mehr als 50km/h durch 30er-Zonen fahren.

Zitat: Innerorts können ab jetzt Fahrverbote schon ab einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 21 km/h und außerorts bzw. auf der Autobahn ab einer Überschreitung von 26 km/h verhängt werden.[...] Ausgerechnet in den aktuellen Krisenzeiten, die für Solidarität und Gemeinschaft stehen sollen, werden Autofahrer mit den neuen StVO-Regelungen regelrecht drangsaliert.Die Erhöhung aller Bußgelder, insbesondere derer bei bereits kleinsten Geschwindigkeitsüberschreitungen, ist nicht nur übertrieben, sondern sendet auch absolut falsche Signale.  Gerade in Zeiten wie diesen sind SOLIDARITÄT und Zusammenhalt in der Gesellschaft gefragt.
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Beobachtungen Corona-Zeiten Tage wie dieser

Schluss mit Lustig

Es gibt Tage, da reicht eine einzelne Nachricht, um meine heitere Gelassenheit in kalte Wut zu verwandeln. Heute ist so ein Tag. Es war nur die Bemerkung im Radio – bestätigt und untermauert durch meinen wohlinformierten Sohn – dass die Impfkampagne auf globaler Ebene mit dem Ziel, die Impfstoffe (halbwegs) gerecht zu verteilen, gnadenlos gescheitert ist, bzw. noch am Scheitern ist.

Nicht, dass mich das überrascht. Seit Monaten kann man die Bemühungen der reichen Staaten verfolgen, möglichst schnell möglichst viele Impfstoffe für die eigene Bevölkerung zu sichern. Ein kleines Wunder dabei, dass die EU zumindest versucht hat, für alle ihre Mitglieder zu sorgen. Dem ein oder anderen Staat ging das zwar zu langsam und es wurde doch selbst eingekauft – aber immerhin. Auf weltweiter Ebene kriegen wir es nicht hin.

Was mich so wütend macht? Dass es die gleichen Mechanismen sind, die dafür sorgen, dass die Erde mit ihren Ressourcen ausgebeutet wird. Aber das muss ich ja nicht mitansehen. Das machen andere für uns, oft genug für einen Hungerlohn.

Und wir gönnen uns: Den Kaffee, die modischen Klamotten, die trendigen Möbel, die Schokolade, das aktuelle Smartphone… Eine weitere Aufzählung erspare ich mir; die Liste wäre zu lang für diesen Blog.

Und nun gönnen wir uns als Allererste die Impfungen, den „Komplett- Schutz“, und damit die Möglichkeit, das öffentliche Leben „wieder hochzufahren“, weil wir finden, dass uns das zusteht, dass wir ein Recht darauf haben. Aber vor allem, weil wir es uns leisten können.

Experten weisen unermüdlich darauf hin, dass eine ungleiche Verteilung und verzögerte Impfung von weiten Teilen der Weltbevölkerung die Pandemie nur verlängern wird, weil das Virus Mutanten bilden wird… (wie wir es ja schon erlebt haben mit den Britischen, Indischen, Südafrikanischen COVID-Mutanten).

Aber offensichtlich ist der Mensch einmal mehr nicht in der Lage, drei Schritte weiter zu denken, Folgen abzuschätzen, abzuwägen und dann entsprechend zu handeln oder es sein zu lassen. Das sprichwörtliche Hemd ist immer noch näher als der Mantel, und die Fähigkeit zu verdrängen riesig groß. Die funktioniert auch bei mir meistens richtig gut.

Nur an Tagen wie diesem, da kickt die Wut rein, klar und unerbittlich.

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Corona-Zeiten system(ir)relevant Von Gestern

Das große Testen

„Also, ich bin übrigens getestet – alles gut“ Ein Satz, den ich in den letzten Tagen öfter gehört habe und der zur angesagten Begrüßungsformel in der nächsten Pandemie-Phase werden könnte. Ich konnte das von mir noch nicht sagen und schon stellt sich die Frage: Bin ich etwa unverantwortlich, wenn ich mich nicht regelmäßig testen lasse?

Dieses damit einhergehende irritierende Gefühl kommt mir bekannt vor; vor ziemlich genau einem Jahr habe ich mehrfach darüber geschrieben. Die Schutzmaßnahmen, die ergriffen werden, gehen jetzt in eine nächste Phase, oder halt: „Lethal Weapon 3-5“.

Wie schon im letzten Jahr sträubt sich etwas in mir, dem Testen mein absolutes Vertrauen zu schenken. Nach dem Abstand-Halten, den Alltagsmasken, den medizinischen Masken, den FFP2-Masken und den immer stärkeren Kontaktbeschränkungen soll der maximale Schutz nun mit dem Testen und Getestet-Werden erreicht werden.

Daran wird meine Störrigkeit natürlich rein gar nichts ändern, und ich sehe mich schon in der Warteschlange des hiesigen Test-Zentrums stehen, um zum Friseur zu dürfen. Also, diesmal kein Protest von mir an dieser Stelle.

Ganz im Gegenteil: Ich fordere, dass wir noch deutlich umfassender testen, wie gefährlich wir für einander wirklich gerade sind!

Für die Pilotphase habe ich mir Folgendes ausgedacht: Um Begegnungen mit einem oder mehreren Mitmenschen* möglichst gefährdungsarm gestalten zu können, testen wir uns regelmäßig selbst!

Die fünf Leitfragen für diesen Selbst-Test lauten:

  • Ist meine Genervtheits-Kurve über dem Durchschnitt?
  • Steigt mein Neid-Faktor exponentiell an?
  • Brauche ich schon morgens die Extra-Portion Bestätigung?
  • Sind meine Gedanken zu 60% mit Zynismus gesättigt?
  • Liegt meine Ärger-Inzidenz bei fünf Wutausbrüchen in den letzten sieben Tagen?

Die Auswertung ist unkompliziert und kann direkt vorgenommen werden: Fünfmal NEIN = negatives Testergebnis. Ein JA bei einer der Fragen = positives Testergebnis. Wenn wir damit ähnlich transparent umgehen wie mit den Ergebnissen der Covid-Tests, zum Beispiel mit einem roten und grünen Button, dann wäre für das jeweilige Gegenüber unschwer zu erkennen, welches Beziehungsgefährdungspotential wir jeweils mitbringen.

Sehen wir Rot, empfiehlt sich die Anwendung der mittlerweile gut eingeübten Abstands- und Hygieneregeln, um den Beteiligten einen ersten Schutz zu bieten.

Ich bin überzeugt, dass mit diesem Test ein vielversprechendes Tool für künftiges sicheres Zusammenleben zur Verfügung steht und warte nur noch auf den Bescheid der zuständigen Zulassungsstelle. Dann kann das Große Testen beginnen!

*(Familienmitglieder über und unter 14 Jahren gehören ausdrücklich dazu!)


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Corona-Zeiten Veränderung

Höchste Zeit

Wenn Professor Marx (Intensivmediziner am Klinikum in Aachen und noch vieles mehr) recht hat, dann haben wir im Spätsommer/September „genug verimpft“, „die Herdenimmunität erreicht“ und damit „die Pandemie bewältigt“. (1)

Gehen wir einfach mal davon aus (mit einem Augenzwinkern vielleicht), dass es tatsächlich so weit kommt. Und nehmen wir auch noch an – oder erinnern uns – dass „durch Corona“ einiges in Frage gestellt wurde in unserem persönlichen, gesellschaftlichen und globalen Leben. Viele sind ins Nachdenken gekommen: Was ist wirklich wichtig für mich, für uns, für ein gutes Zusammenleben?

Sollte also wirklich das vorläufige Ende der Pandemie mit ihren Einschränkungen in Sicht sein, und wollten wir ernsthaft Antworten auf diese Lebensfragen finden, dann wäre jetzt höchste Zeit dafür.

Die Antwort „Das Ganze endlich hinter uns zu lassen!“ wäre mir zu wenig…

(1) So gehört am 23. März – Interview im Deutschlandfunk; Informationen am Morgen

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Corona-Zeiten Veränderung

Murmeltier-Jahr

Es ist der 23. März, der Wecker klingelt, ich stehe (nach zweimal snoozen) auf, koche den Ingwer-Tee und schalte die Nachrichten an: Das Virus beherrscht die Schlagzeilen, der Lockdown wird verlängert, Ostern wird ohne großfamiliäre Eiersuche stattfinden und einkaufen geht am besten im örtlichen Supermarkt.

Ich blinzle kurz, schaue nochmal auf die Jahreszahl am Kalender: Wir schreiben das Jahr 2021, aber mich beschleicht das untrügliche Gefühl, als hätte ich alles schonmal erlebt. Vor circa einem Jahr und dann immer wieder.

Mir kommt das täglich grüßende Murmeltier aus Punxsutawney in den Sinn und die Zeitschleife, in der Phil Connors, ein übellauniger Wetter-Berichterstatter dort gefangen war.

Nach dem ersten Schock über den sich wiederholenden 2. Februar, verfolgt Phil unterschiedliche Strategien im Umgang mit diesem Tag, den er bald in- und auswendig kennt. Schließlich überwiegt aber die Verzweiflung und er versucht seinem Leben ein Ende zu setzen. Es gelingt ihm nicht: An jedem vermeintlich neuen Morgen erklingt zuverlässig und unbarmherzig der Song „I got you, Babe“ aus dem Radiowecker und er muss sich der immergleichen Realität erneut stellen.

Irgendwann stellt Phil fest, dass er zwar die äußeren Umstände nicht ändern kann: Er sitzt fest in einem Nest in der amerikanischen Provinz und hat über den Murmeltiertag zu berichten. Seine Haltung dazu kann er jedoch sehr wohl verändern. Wie er diesen einen Tag verbringt – darauf hat er Einfluss. Unter stark eingeschränkten Möglichkeiten beginnt er also zu lernen: Klavierspielen, Zuhören, Eis-Skulpturen-Schnitzen, Freundlich sein und nicht zuletzt Lieben. Allmählich geschieht eine erstaunliche Wandlung.

Am Schluss ist es die erwiderte Liebe, die die Zeitschleife löst. Phil geht als geläuterter Mann aus diesem scheinbar endlosen 2. Februar hervor und beschließt, mit seiner Rita in Punxsutawney zu bleiben.

Im Grunde eine echte Mutmach-Geschichte für das Leben in Lockdown-Endlos-Schleifen. Es gibt sie auch jetzt, die Gestaltungsspielräume und Gelegenheiten zur Wandlung – es muss ja nicht unbedingt Klavierspielen sein.

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Corona-Zeiten Veränderung Von Gestern

#wisst ihr noch?

Vor einem Jahr startete ich diesen Blog mit einem Beitrag unter dem Titel #wirbleibenzuhause. Heute kann ich nur staunen über die damalige Bereitschaft in weiten Teilen der Bevölkerung, sich hinter diesem Hashtag zu versammeln. So vieles hat sich seither verändert…

Das WIR hat sich in der pluralen und vielschichtigen Gesellschaft aufgelöst. Die Interessen der ganz unterschiedlich Betroffenen klaffen weit auseinander. Und wenn es noch doch noch mal auftaucht, dieses WIR, dann nur im Gegensatz zu DEN ANDEREN.

BLEIBEN will auch keiner mehr so richtig. Weder im muffigen Homeoffice, noch über Ostern in der eigenen Nachbarschaft.

Und das ZUHAUSE, das war doch mal der Ort, zu dem man nach langen Arbeitstagen müde aber zufrieden heimkehren konnte, um den Abend zu feiern. Diesen Ort gibt es für viele von uns so nicht mehr. Zuhause – das ist jetzt der Immer-Ort, und der fühlt sich irgendwie zäh an und klebrig.

Heute lese ich in meinem allerersten Beitrag vom 24. März 2020 wie froh ich war um die „Erlaubnis, zuhause zu bleiben“. Damals war ich „von ein paar Wochen“ in diesem Zustand ausgegangen.

Wie man sich doch täuschen kann…

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Corona-Zeiten Slow down Slow Month

Slow Month Bilanz

Mein Plan war, den November zu meinem langsamen Monat zu machen und zu sehen, wohin mich die Entschleunigung führt. Dieses Vorhaben wurde kräftig unterstützt durch all die zusätzlichen Maßnahmen und Einschränkungen, die bis heute gelten. Dazu kamen noch die stillsten Weihnachtstage meines Lebens und das gechillteste Sylvester aller Zeiten.

Dass ich trotzdem so wenig geschrieben habe, sagt schon einiges über meine Erfahrungen mit der Entschleunigung. Es ist eigentlich auch nicht besonders überraschend – aber indem ich das, was ich tue, verlangsame, brauche ich natürlich mehr Zeit für die alltäglichen (Besorgungen, Kochen, Wäsche…) und besonderen Dinge (Kontakte, Hörbücher, Gespräche…). Und ein ganz normaler Tag füllt sich zuverlässig auch ohne weitere Termine, Verpflichtungen und Sonder-Aktionen.

Es fühlt sich im Großen und Ganzen recht gut an, weniger getrieben und weniger hektisch durch die Tage und Wochen zu gehen. Es könnte sogar zu einem Lebensstil werden, zu meiner eigenen Normalität – wenn da nur nicht das hohe Tempo um mich herum und in mir drin wäre:

Trotz oder wegen Lockdown rasen die Autos noch schneller an mir vorbei; was natürlich auch an meiner eigenen Gehweg-Perspektive liegen könnte.

Die Möglichkeiten, die das Internet als Ersatz für alles Präsentische bietet, schießen wie Pilze aus dem Boden. Das Leben wird auf den Bildschirm verlagert; Video-Konferenzen sorgen dafür, dass „die Läden laufen“. Wenn keiner mehr Wege zurücklegen muss, passen noch mehr Meetings in einen Arbeitstag als vorher. Mit ca. vier Klicks lassen sich Ort und Teilnehmer geschmeidig wechseln. Hier geht es mir ein bisschen wie draußen auf dem Bürgersteig: Ich bin im Vergleich langsam, etwas widerständig, latent gestresst und irgendwie „außen vor“.

Als vorläufiges Ergebnis meiner entschleunigten Monate kann ich festhalten: Es entsteht ein Gefühl von Fremdheit, von Anders-Sein, wenn ich das vorgegebene Tempo nicht mitgehe. Es gilt permanent, den inneren Antreiber in die Schranken zu weisen, denn der hat genügend Ideen, was noch alles in diesen Tag hätte platziert werden können. Und schließlich muss einem inneren Bewerter und Abhaker getrotzt werden, der vorgaukelt, dass ich besser bin, je mehr ich erledigt habe.

Ohne Anspruch auf Belastbarkeit meiner Kleinst-Studie kann ich also tatsächlich einen überraschenden Zusammenhang zwischen Entschleunigung und Kraftanstrengung verifizieren.

Das Bild vom Strömungskanal vom letzten Juni kommt mir in den Sinn. Entschleunigung bedeutet eben nicht, mich im Strom treiben zu lassen und das jeweilige Tempo mitzunehmen. Es fühlt sich eher an wie Gegen-den-Strom-Schwimmen – kein Wunder also, dass es ziemlich viel Kraft braucht…

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Corona-Zeiten Slow Month Veränderung

Slow Motion

Ein Entschleunigungs-Feature für meinen „Slow November“ setzt ganz praktisch und naheliegend im Bereich der Fortbewegung an. Strecken, die ich üblicherweise mit dem Rad zurücklege, gehe ich zu Fuß. Wo ich sonst das Auto nehme steige ich auf’s Fahrrad oder in die Bahn.

Seit fünf Tagen praktiziere ich nun diese Form der „Slow Motion“ und kann bereits erste Erkenntnisse zur benötigten Kraftanstrengung festhalten: Natürlich brauche ich mehr körperliche Kraft, um nach Leopoldshafen zu laufen, oder nach Neureut zu radeln, aber das kann ich ja direkt auf mein Fitness-Konto buchen, wo es sich positiv auswirkt. Kein Problem also an dieser Stelle.

Schwierig wird es bei der benötigten Zeit. Davon muss ich von vornherein mehr einplanen, und zwar mindestens doppelt so viel wie mit der herkömmlichen Fortbewegungsform. Und genau hier beginnt der Kraftakt: Noch bevor ich meine lauftauglichen Schuhe anziehe, überlege ich, was ich in dieser Zeit noch alles würde erledigen können. Und wenn ich auf’s Rad steige, wird mir klar, dass ich mit dem Auto effizienter einkaufen und früher kochen könnte.

Wirklich erstaunlich, dass solche Gedanken sich vordrängen, obwohl ich in dieser Woche im Vergleich zum Oktober nur ein Viertel an Terminen habe! Ganz offensichtlich ist mehr als genug Zeit da, und wenn ich dann mal unterwegs bin, freue ich mich an der Bewegung.

Es ist also dieser fiese Druck, meine Zeit möglichst produktiv und effizient zu verbringen, der sich der Entschleunigung in den Weg stellt! Ihn frontal anzugreifen und auseinanderzunehmen, ist mir im Moment noch nicht möglich. So versuche ich es erstmal mit Ignorieren und Ausweichen und fahre, bzw. laufe bisher recht gut damit. 😉

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Corona-Zeiten Slow down Veränderung

Kraftanstrengungen

Jens Spahn, der genesene Gesundheitsminister, hat am 1. November im heute-journal bei Marietta Slomka eine interessante Ansage gemacht. Er sagte, jetzt sei „zuerst einmal eine nationale Kraftanstrengung im November“ nötig, die Devise heiße „Entschleunigung für alle“.(*)

Auf den ersten Blick erschien mir das etwas dramatisch, aber vor allem paradox: Es soll langsamer zugehen für alle, und dafür braucht es eine enorme Kraftanstrengung? 🤔

Aber tatsächlich kann Entschleunigung durchaus anstrengend sein. Dazu muss man nur mal die Übungen im Fitness-Studio oder auf der eigenen Matte in Zeitlupe ausführen. Da kommen nochmal andere Kräfte ins Spiel.

Nun wird seit Montag das öffentliche und private Leben durch die neuen Corona-Verordnungen gedrosselt, und die Worte von Herrn Spahn über die nationale Kraftanstrengung scheinen schon nach drei Tagen zutreffender, als ich zunächst dachte.

Ich habe viel weniger Termine und Verpflichtungen, aber eine spürbare Erleichterung will sich nicht einstellen. Es fühlt sich eher schwerer und mühsamer an, durch den Tag zu gehen. Und wenn ich meine Mitmenschen auf der Straße oder auf den Bildschirmen betrachte, dann verstärkt sich dieser Eindruck noch.

Wo und warum wird das Leben durch die Verlangsamung eigentlich anstrengender? Welche Kraftakte sind angesichts der kollektiven Entschleunigung gefordert?

Diesen Fragen will ich mich in den kommenden Tagen und Wochen im Rahmen einer Kleinst-Studie widmen. #Slow Month.

(*) und wendet sich damit an eine Nation, der es auf Autobahnen nicht schnell genug gehen kann 😃