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Beobachtungen Corona-Zeiten Von Gestern

Solidarität

Mein Vorschlag für das pandemische Unwort lautet: Solidarität.

Vor zehn Monaten hab ich einen ersten Entwurf dazu verfasst, der es aber nie bis zur Veröffentlichung geschafft hat, da die Realität diesen und alle weiteren Schreibversuche immer wieder überholt hat. Aber nun ist das S-Wort wieder gefallen – diesmal im Zusammenhang mit den Impfungen – und hat bei mir einen heftigen Würgereiz ausgelöst. Deshalb muss das jetzt raus:

‚Solidarität‘, das ist lt. Duden ein unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele. Solche gemeinsamen Ziele gab es vor einem Jahr wirklich für einen ganz kurzen Moment und für weite Teile der Gesellschaft. Ja, man konnte tatsächlich sogar eine Art Zusammenhalt spüren.

Die Solidarität vom März 2020 war relativ klar umrissen. ‚Damals‘ blieben wir zuhause in Solidarität mit dem Klinikpersonal, wir kauften Gutschein in Solidarität mit Kulturbetrieben, wir unterstützen solidarisch alle kulinarischen Take-Away-Angebote, um die Gastronomie zu stärken. Das Ziel war „gemeinsam durch diese Krise kommen“.

Im Laufe der Zeit wurde es dann immer diffuser, wer mit wem solidarisch zu sein hat, die Ziele und Anschauungen wurde zunehmend vielfältiger, aber die Solidarität blieb in aller Munde – auch da, wo man sie nicht vermutet hätte(*) – und die Forderungen der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen aneinander wurden lauter.

Junge Menschen sollen sich entsprechend solidarisch zeigen, indem sie auf alles verzichten, was sich im Alter zwischen 14 und 24 an spannenden Begegnungen so ereignet; wie wär’s, wenn im Gegenzug die geimpften rüstigen Senioren auf den Biergarten und die Tirol-Reise verzichten würden? Zumindest würde das dem Wortsinn entsprechen, denn laut Duden bedeutet ’solidarisch‘ füreinander einstehend, sich gegenseitig verpflichtet. Aber so einfach ist es eben doch nicht, denn sie könnten sich ja auch den Hotel- und Gaststättenbetrieben und der Tourismus-Industrie verpflichtet fühlen und hier solidarisch sein🤔

Ich fürchte, wir sind in einer Solidaritätssackgasse gelandet. Und was liegt angesichts dieser Komplexität näher, als sich dem einen Ziel zu verschreiben, das meistens gut sichtbar ist – dem eigenen Interesse!

Nach einem Jahr Pandemie sind wir zumindest in diesem Bereich wieder in der Normalität gelandet. Die Debatten um die Impf-Reihenfolge machen es deutlich: Jede/r ist sich selbst der/die Nächste – und wer halt geimpft in Urlaub fahren will, findet schon Mittel und Wege, sich in der Impfschlange weiter vorne als vorgesehen einzureihen. Wobei es natürlich auch ein Grund zum freudigen Staunen ist, dass so viele junge Erwachsene sich pflegend um Angehörige kümmern. Wer hätte das gedacht!

Meine Bitte: Streichen wir das abgenutzte Wort und das ganze überhöhte Konzept einer gesellschaftlichen „Solidarität“ aus unseren Appellen, Diskussionen und Kommentaren.

Versuchen wir es statt dessen mit „Anstand“ – das wäre schon was.

(*) So riefen die Ersteller einer Petition im April 2020 gegen die sog. „Führerschein-Falle“, zur Solidarität mit Autofahrern auf, die mit mehr als 50km/h durch 30er-Zonen fahren.

Zitat: Innerorts können ab jetzt Fahrverbote schon ab einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 21 km/h und außerorts bzw. auf der Autobahn ab einer Überschreitung von 26 km/h verhängt werden.[...] Ausgerechnet in den aktuellen Krisenzeiten, die für Solidarität und Gemeinschaft stehen sollen, werden Autofahrer mit den neuen StVO-Regelungen regelrecht drangsaliert.Die Erhöhung aller Bußgelder, insbesondere derer bei bereits kleinsten Geschwindigkeitsüberschreitungen, ist nicht nur übertrieben, sondern sendet auch absolut falsche Signale.  Gerade in Zeiten wie diesen sind SOLIDARITÄT und Zusammenhalt in der Gesellschaft gefragt.
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Corona-Zeiten system(ir)relevant Von Gestern

Das große Testen

„Also, ich bin übrigens getestet – alles gut“ Ein Satz, den ich in den letzten Tagen öfter gehört habe und der zur angesagten Begrüßungsformel in der nächsten Pandemie-Phase werden könnte. Ich konnte das von mir noch nicht sagen und schon stellt sich die Frage: Bin ich etwa unverantwortlich, wenn ich mich nicht regelmäßig testen lasse?

Dieses damit einhergehende irritierende Gefühl kommt mir bekannt vor; vor ziemlich genau einem Jahr habe ich mehrfach darüber geschrieben. Die Schutzmaßnahmen, die ergriffen werden, gehen jetzt in eine nächste Phase, oder halt: „Lethal Weapon 3-5“.

Wie schon im letzten Jahr sträubt sich etwas in mir, dem Testen mein absolutes Vertrauen zu schenken. Nach dem Abstand-Halten, den Alltagsmasken, den medizinischen Masken, den FFP2-Masken und den immer stärkeren Kontaktbeschränkungen soll der maximale Schutz nun mit dem Testen und Getestet-Werden erreicht werden.

Daran wird meine Störrigkeit natürlich rein gar nichts ändern, und ich sehe mich schon in der Warteschlange des hiesigen Test-Zentrums stehen, um zum Friseur zu dürfen. Also, diesmal kein Protest von mir an dieser Stelle.

Ganz im Gegenteil: Ich fordere, dass wir noch deutlich umfassender testen, wie gefährlich wir für einander wirklich gerade sind!

Für die Pilotphase habe ich mir Folgendes ausgedacht: Um Begegnungen mit einem oder mehreren Mitmenschen* möglichst gefährdungsarm gestalten zu können, testen wir uns regelmäßig selbst!

Die fünf Leitfragen für diesen Selbst-Test lauten:

  • Ist meine Genervtheits-Kurve über dem Durchschnitt?
  • Steigt mein Neid-Faktor exponentiell an?
  • Brauche ich schon morgens die Extra-Portion Bestätigung?
  • Sind meine Gedanken zu 60% mit Zynismus gesättigt?
  • Liegt meine Ärger-Inzidenz bei fünf Wutausbrüchen in den letzten sieben Tagen?

Die Auswertung ist unkompliziert und kann direkt vorgenommen werden: Fünfmal NEIN = negatives Testergebnis. Ein JA bei einer der Fragen = positives Testergebnis. Wenn wir damit ähnlich transparent umgehen wie mit den Ergebnissen der Covid-Tests, zum Beispiel mit einem roten und grünen Button, dann wäre für das jeweilige Gegenüber unschwer zu erkennen, welches Beziehungsgefährdungspotential wir jeweils mitbringen.

Sehen wir Rot, empfiehlt sich die Anwendung der mittlerweile gut eingeübten Abstands- und Hygieneregeln, um den Beteiligten einen ersten Schutz zu bieten.

Ich bin überzeugt, dass mit diesem Test ein vielversprechendes Tool für künftiges sicheres Zusammenleben zur Verfügung steht und warte nur noch auf den Bescheid der zuständigen Zulassungsstelle. Dann kann das Große Testen beginnen!

*(Familienmitglieder über und unter 14 Jahren gehören ausdrücklich dazu!)


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Corona-Zeiten Veränderung Von Gestern

#wisst ihr noch?

Vor einem Jahr startete ich diesen Blog mit einem Beitrag unter dem Titel #wirbleibenzuhause. Heute kann ich nur staunen über die damalige Bereitschaft in weiten Teilen der Bevölkerung, sich hinter diesem Hashtag zu versammeln. So vieles hat sich seither verändert…

Das WIR hat sich in der pluralen und vielschichtigen Gesellschaft aufgelöst. Die Interessen der ganz unterschiedlich Betroffenen klaffen weit auseinander. Und wenn es noch doch noch mal auftaucht, dieses WIR, dann nur im Gegensatz zu DEN ANDEREN.

BLEIBEN will auch keiner mehr so richtig. Weder im muffigen Homeoffice, noch über Ostern in der eigenen Nachbarschaft.

Und das ZUHAUSE, das war doch mal der Ort, zu dem man nach langen Arbeitstagen müde aber zufrieden heimkehren konnte, um den Abend zu feiern. Diesen Ort gibt es für viele von uns so nicht mehr. Zuhause – das ist jetzt der Immer-Ort, und der fühlt sich irgendwie zäh an und klebrig.

Heute lese ich in meinem allerersten Beitrag vom 24. März 2020 wie froh ich war um die „Erlaubnis, zuhause zu bleiben“. Damals war ich „von ein paar Wochen“ in diesem Zustand ausgegangen.

Wie man sich doch täuschen kann…