Der Karfreitag war für meine fromme Großmutter eine ernste, ja heilige Angelegenheit. Außer dem Gottesdienstbesuch im schwarzen Mantel und einem fleischlosen Mittagessen war dieser Tag für sie durch Stille geprägt. Sie konnte es nicht aushalten, wenn wir als Kinder durch den Hof gerannt sind, und ich erinnere mich noch gut an ihre mißbilligenden Blicke und Worte, als sie mich mit meinem Strickzeug auf dem Sofa angetroffen hat. Damals fand ich das sehr befremdlich und fühlte mich ihr insgeheim überlegen, weil ich meinte, solche äußeren Formen für meinen Glauben nicht nötig und derlei Zwänge hinter mir gelassen zu haben.
Das deutsche Feiertagsgesetz gibt meiner Oma allerdings insofern recht, als dass der Karfreitag bis heute zu den „Stillen Tagen“ gehört, an denen zum Beispiel das Tanzverbot gilt.
Inzwischen sind ein paar Jahrzehnte vergangen, und wie ich haben sich auch Karfreitage verändert. Man kann ohne aufzufallen im hellblauen Frühlingsmantel in die Kirche gehen, und das fleischlose Mittagessen wird vor allem von Fischereibetrieben und -vereinen propagiert. Ein netter zusätzlicher Feiertag also, der Zeit zum Eierfärben und Wohnung-Dekorieren bietet.
Ausgerechnet in diesem Jahr 2020 mitten im Corona-Shut-Down kommt mir die Stille wieder in den Sinn; vielleicht weil sie als solche fast nicht mehr zu haben ist. Statt der gewohnten Begegnungen im Alltag findet das pralle soziale und kulturelle Leben online statt. Das Internet, schon seit jeher eine unendliche Quelle sinnvoller wie sinnfreier Unterhaltung, platzt förmlich vor neuen Wohnzimmer-Formaten. Für die kommenden christlichen Feiertage stehen gefühlt ebenso viele eigens produzierte Gottesdienste im Netz wie Kirchen im Dorf. Ganz zu schweigen von den unzähligen Blogs, in denen Menschen ihre Beobachtungen und Gedanken zum Besten geben…
Wir tun uns offensichtlich schwer mit der Stille, mit dem Still-Sein und nochmehr mit dem Still-Halten. Ich bewundere Menschen, die in der Lage sind, einfach in der Stille zu sitzen – zwanzig Minuten, zwei Stunden, einen halben Tag. Sie halten die Stille, ja, sie halten die Stille aus.
Im Rahmen eines Achtsamkeitstrainings hab ich das auch praktiziert und musste erkennen, dass es für mich die schwierigste Form der Meditation ist. Still-Sein geht, dafür muss ich nur den Mund halten; aber die Stille halten, nicht davor weglaufen, sie auch nicht umrahmen, sie nicht mal benutzen um zur Ruhe zu kommen – das ist etwas völlig anderes.
Was ist so schwierig daran? Ich muss doch gar nichts tun. Aber genau dieses Nichts ist das Problem. Da von außen keine Reize kommen, bin ich ganz meinen Gedanken und meinem Körper ausgeliefert. Die einen schlagen Purzelbaum im Kopf, der andere meldet sich durch Schmerzsignale in Rücken und Knien. Je stiller es um mich ist, umso lauter höre ich alles, was in mir abgeht. Meist sind es nicht die angenehmsten Dinge, die sich da Gehör verschaffen. Genügend Gründe, doch lieber den mp3-Player zu schnappen und eine Runde im Wald zu drehen.
Wenn es jedoch gelingt, in diesen inneren Turbulenzen still zu halten, auszuhalten, dass nichts zu tun ist – dann kann es passieren, dass die Stille mir etwas zeigt – etwas über mich selbst und das Leben und meinen Platz darin.
Der kanadische Gitarrist und Sänger Bruce Cockburn drückt das in einem seiner Songs so aus:
Nothing is pure, nothing is sure; and no matter who we think we are, everybody gets the chance to be nothing.
Bruce Cockburn: „Isn’t that what friends are for?“, 1999
Heute weiß ich, wie meine Oma mich damals hätte packen können: „Also Heidi, ich glaube nicht, dass du eine Stunde still halten kannst, ohne Strickzeug, Kassettenrekorder und Tagebuch.“
Morgen, am Karfreitag, werde ich es versuchen.