… was du nicht siehst
Neulich in der S4 Richtung Jöhlingen: Zwei Mädchen auf dem Heimweg von der Schule spielen dieses uralte Spiel, für das man nichts braucht außer eine/n Mitspieler/in, eine Umgebung und ein wenig Enthusiasmus. Davon bringen Kinder eindeutig mehr mit als Erwachsene. Ich erinnere mich an S-Bahn-Fahrten mit unseren kleinen Kindern: Nach fünf Runden „Ich sehe was…“ war mir schon langweilig.
Ganz anders meine Mitreisenden in der S-Bahn. Die beiden Mädchen waren eifrig bei der Sache, so dass ich immer wieder zu ihnen rüber hörte (trotz Musik im Ohr). Die Intitiatorin des Spiels begann. Sie ließ kurz den Blick schweifen und verkündete fröhlich: „Ich sehe was, was du nicht siehst und es ist grün.“ Ein leichte Aufgabe für die Mitspielerin: „Die Wiese draußen!“ Volltreffer, dachte ich lächelnd und wandte mich wieder meiner Musik zu. Nach wenigen Minuten jedoch wurde ich wieder auf die beiden aufmerksam. Es gab anscheinend eine Auseinandersetzung, denn die Stimmen waren lauter und die Gesichter richtig ernst geworden.
Schnell wurde der Grund des Konflikts deutlich: Die Raterin hatte trotz vieler Versuche das Gesuchte nicht finden können, und so musste das Rätsel durch die ‚Behaupterin‘ aufgelöst werden. Es war der Kunststoffkleiderhaken an der Wand neben dem Fenster, den sie so beschrieben hatte: „Ich sehe was, was du nicht siehst … und es ist weiß“. Die erfolglose Raterin war entsetzt: „Der ist nie im Leben weiß! Der ist grau!“ Die andere schaute verdutzt. Für sie hing dort ein eindeutig weißer Haken. Eine Weile ging es so hin und her und jede versuchte, die andere von der richtigen Farbe zu überzeugen. Schließlich gab die Behaupterin nach, aber überzeugt schien sie mir nicht. Sie hatte nur keine Lust auf weiteren Streit.
In Jöhlingen angekommen führte mein Weg mich über den Kirchplatz, auf dem ich schon von weitem den bunt geschmückten Osterbrunnen erblickte. Als ich direkt an ihm vorbeiging stellte ich fest, dass das grüne Laub und die Eier aus Plastik waren. Ich dachte an die beiden Mädels und spielte das Spiel mit mir selbst durch: Eine sieht einen schön geschmückten Osterbrunnen, die andere einen Haufen Plastikmüll.
Kurz darauf beim Spaziergang mit meinem Mann: Ein gefiedertes Tier war in der Ferne zu beobachten. Nur sah er einen Storch und ich einen Reiher auf der Wiese. Wir sind tatsächlich in ein mittleres Gezanke geraten, weil jeder auf seiner Sicht bestanden hat.
Da war es wieder: Ich sehe was, was du nicht siehst. Was so bescheiden als Name eines harmlosen Kinderspiels daherkommt, entpuppt sich plötzlich als zeitlose Wahrheit: Ich sehe was, was du nicht siehst, weil ich einen anderen Standpunkt habe, eine andere Perspektive, die Dinge anders einordne, andere Erfahrungen im Leben gemacht habe, anderen Influencer:innen folge!
Der eine sieht ein Meisterwerk der Automobilindustrie, der andere eine überdimensionierte rollende Blechkiste. Die eine sieht dick gepolsterte Hüften und fette Oberschenkel, die andere einen wohlgeformten prallen Körper. Der eine sieht den duftenden Kaffee, die andere die Unmengen an Wasser, die für seine Herstellung notwendig war. Die eine sieht in der Impfung eine Gefahr, der andere die Rettung.
Ich sehe was, was du nicht siehst!!! Genau so ist es. Und deshalb musst du mir erklären, was du siehst und musst dir anhören, was ich dir über meine Sicht zu sagen habe. Zumindest versuchen sollten wir das. Das ein oder andere Missverständnis ließe sich möglicherweise vermeiden und der Hang zur Rechthaberei könnte nachlassen.
Ich sehe was, was du nicht siehst – bisher sah ich einen ziemlich langweiligen kindlichen Zeitvertreib. Heute sehe ich eine überragende Übung, sich der eigenen Wahrnehmung bewusst zu werden und sie zumindest kurz in Frage zu stellen.
Warum haben wir je aufgehört, dieses Spiel zu spielen?