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Beobachtungen Corona-Zeiten Tage wie dieser

Schluss mit Lustig

Es gibt Tage, da reicht eine einzelne Nachricht, um meine heitere Gelassenheit in kalte Wut zu verwandeln. Heute ist so ein Tag. Es war nur die Bemerkung im Radio – bestätigt und untermauert durch meinen wohlinformierten Sohn – dass die Impfkampagne auf globaler Ebene mit dem Ziel, die Impfstoffe (halbwegs) gerecht zu verteilen, gnadenlos gescheitert ist, bzw. noch am Scheitern ist.

Nicht, dass mich das überrascht. Seit Monaten kann man die Bemühungen der reichen Staaten verfolgen, möglichst schnell möglichst viele Impfstoffe für die eigene Bevölkerung zu sichern. Ein kleines Wunder dabei, dass die EU zumindest versucht hat, für alle ihre Mitglieder zu sorgen. Dem ein oder anderen Staat ging das zwar zu langsam und es wurde doch selbst eingekauft – aber immerhin. Auf weltweiter Ebene kriegen wir es nicht hin.

Was mich so wütend macht? Dass es die gleichen Mechanismen sind, die dafür sorgen, dass die Erde mit ihren Ressourcen ausgebeutet wird. Aber das muss ich ja nicht mitansehen. Das machen andere für uns, oft genug für einen Hungerlohn.

Und wir gönnen uns: Den Kaffee, die modischen Klamotten, die trendigen Möbel, die Schokolade, das aktuelle Smartphone… Eine weitere Aufzählung erspare ich mir; die Liste wäre zu lang für diesen Blog.

Und nun gönnen wir uns als Allererste die Impfungen, den „Komplett- Schutz“, und damit die Möglichkeit, das öffentliche Leben „wieder hochzufahren“, weil wir finden, dass uns das zusteht, dass wir ein Recht darauf haben. Aber vor allem, weil wir es uns leisten können.

Experten weisen unermüdlich darauf hin, dass eine ungleiche Verteilung und verzögerte Impfung von weiten Teilen der Weltbevölkerung die Pandemie nur verlängern wird, weil das Virus Mutanten bilden wird… (wie wir es ja schon erlebt haben mit den Britischen, Indischen, Südafrikanischen COVID-Mutanten).

Aber offensichtlich ist der Mensch einmal mehr nicht in der Lage, drei Schritte weiter zu denken, Folgen abzuschätzen, abzuwägen und dann entsprechend zu handeln oder es sein zu lassen. Das sprichwörtliche Hemd ist immer noch näher als der Mantel, und die Fähigkeit zu verdrängen riesig groß. Die funktioniert auch bei mir meistens richtig gut.

Nur an Tagen wie diesem, da kickt die Wut rein, klar und unerbittlich.

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Tage wie dieser

Zum Heulen

„Jetzt heult sie schon wieder…“ stöhnte mein älterer Bruder regelmäßig entnervt, wenn ich unsere wilden Spiele nicht anders beenden konnte als mit einem Heulanfall, der zum Eingreifen unserer Mutter sorgte.

Ich wollte keine Heulsuse sein, aber die Tränen kamen schnell, wenn ich wütend, hilflos, verzweifelt war. Und als kleine Schwester war ich das wohl oft, denn ganz lange war der Bruder einfach größer, schneller, stärker, klüger. Auch das aufgeschlagene Knie oder der Spreißel im Daumen waren Anlass für viele Tränen.

Irgendwann waren wir Geschwister ebenbürtig und die Kontrolle über unangenehme Emotionen war gewachsen. Je älter ich werde, umso souveräner kann ich scheinbar mit Gefühlen von Angst, Wut, Schmerz und Verzweiflung umgehen. So jedenfalls mein Anspruch.

Ich heule kaum noch, aber wenn doch, dann passiert etwas ganz Erstaunliches: die Tränen lösen etwas in mir und zeigen mir, wie tief der Schmerz sitzt und wie klein und hilflos ich mich fühle. Dann bin ich „wie aufgelöst“, etwas ist klarer und ehrlicher geworden.

Heute ist Karfreitag, der Feiertag, der seinen Namen hat vom althochdeutschen Wort ‚kara‘, das heißt ‚Kummer‘, ‚Sorge‘. ‚Kara‘ wiederum lässt sich auf das indogermanische Verb ‚gar‘ zurückführen. Und das bedeutet ’schreien, jammern, wehklagen‘ .

Es ist der Tag ‚zum Heulen‘ über all das, was uns erfüllt mit Angst und Schmerz und Wut, mit Trauer und Hoffnungslosigkeit. An diesem Tag brauchen wir keine Antworten suchen, Strategien entwickeln oder Trostversuche anstellen. Heute können wir der Klage, dem Jammer, den Tränen Raum geben bis wir wie aufgelöst sind.

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Slow down Slow Month

Slow Rage

Also, manchmal möchte ich am liebsten einfach dreinschlagen. So viel Dummheit, so viel Möchte-Gern-Gehabe, so viel Selbstgerechtigkeit und Blindheit auf anscheinend allen Kanälen!

Es gab Zeiten, da wusste man noch, wohin man schlagen musste, um den vermeintlich richtigen zu treffen. Aber auch die haben sich geändert – wie so vieles. Seit einigen Wochen beobachte ich ein merkwürdiges Phänomen: Sobald ich meine Wut auf ein Ziel ausrichte, verschwimmt es mir förmlich vor den Augen und direkt daneben taucht eine weitere Zielscheibe auf, die gleich darauf auch wieder aus dem Blickfeld driftet. Kurz gesagt: Ich weiß nicht mehr, wohin mit meiner Wut.

Nur ein Beispiel: Ich höre Morgenradio und rege mich einmal mehr über die Zahlen auf, die sich seit einem Jahr erbarmungslos über die Hörerschaft ergießen (Neuinfektionszahlen, Inzidenzwerte, Todesfallzahlen, Impfzahlen, etc.). Zahlen ohne rechten Zusammenhang und Relation; Zahlen, die unbedingt zu interpretieren und einzuordnen wären oder besser ganz aus den Kurznachrichten verschwinden würden.

Während ich mich also eben noch gepflegt über die Einfalt der Darstellung beim Deutschlandfunk aufrege, fällt mir ein, dass andere mit diesen durchaus fragwürdigen Zahlen gleich die ganze Pandemie in Frage stellen; sie prangern eine „Corona-Diktatur“ an und setzen sich dreist über geltende Regeln hinweg.

Und so verrutscht meine Wut in Richtung dieser sogenannten Corona-Leugner und versucht sich gerade noch dort anzuheften, als ich im Netz Kommentare lese, die vor Hohn und Verachtung für jene Menschen nur so triefen; und schon rollt meine Wut auf die hasserfüllten anonymen Verfasser zu. Von dort ist es nicht weit zu den sogenannten Sozialen Medien und deren enormen Einfluss auf Nutzer und Gesellschaft. Und schließlich landet das, was noch an Ärger übrig ist, bei Facebook, Google und Twitter – der ungefähr größten Zielscheibe, die man sich denken kann – und verschwindet.

Was ist passiert: Durch die ständige Ablenkung hat meine Wut deutlich an Schlagkraft verloren; nach der fünften Wendung ist im Grunde kaum noch was davon übrig. Zurück bleibt ein Gefühl der Verwirrung und Vernebelung und tatsächlich auch der Verlangsamung. Ohne es zu wollen habe ich anscheinend eine neue Disziplin der Entschleunigung entdeckt: Slow Rage!

Ob das ein Tool werden könnte gegen Hass und Hetze online und auf der realen Straße? Man müsste nur vor jeder Äußerung oder Handlung den Blick durch den (virtuellen) Raum schweifen lassen und die Wut wie eine Billardkugel auf den Weg schicken. Die rollt irgendwann aus und bleibt liegen oder verschwindet mit einem Plob in einem der Löcher.

Ok, das Bild hinkt: Bis eine Billardkugel wieder ruhig auf dem Tisch liegt, hat sie meist schon einige gegnerische Kugeln aus dem Weg geräumt…

Aber besser ein hinkendes Bild als blinde Wut – oder was war der Punkt? Genau: Ich wollte eigentlich irgendwo reinschlagen…